Ich konnte ihre Augen
sehen. Sie waren so dunkel wie ein Wald in den Tiefen der Nacht. Ein
seltsamer Schimmer lag darin, doch ich konnte es nicht deuten. Auf
einmal hatte ich das Gefühl mit ihr verbunden zu sein, durch
irgendeine unsichtbare Kraft, die mich zu ihr zog, als wäre sie ein
Magnet. Und mir wurde schmerzhaft bewusst, dass Michael immer weiter
fuhr und ich mich von ihr entfernte. Und sie sah mir nach und ich
meinte dieselbe Sehnsucht auch bei ihr zu sehen.
"Hast du etwas
Interessantes gesehen?", fragte mich Michael und riss mich
gewaltsam aus meinen Gedanken.
"Nein",
stammelte ich, "da war nichts." Ich drehte mich um und
lächelte ihn zaghaft an. Michael; mein Vater und doch ein Fremder.
Ich hatte ihn vor gerade mal zwei Wochen kennen gelernt.
Wir fuhren in eine schier
endlos lange Straße ein und hielten schließlich an. Ich stieg aus
und betrachtete ein riesiges Gebäude, mit einer der schönsten
Fassaden in dieser Gegend und dem gepflegtesten Garten von allen und
doch sah es am wenigsten herzlich aus. Es hieß mich nicht willkommen
- wahrscheinlich niemanden. Alice sah uns schon von weitem kommen und
öffnete die Tür.
"Ethan!", rief
sie und schloss mich in ihre Arme. Die rothaarige Frau war mir
ebenfalls fremd. Eine Krankenschwester hatte mir erzählt, dass,
obwohl die Erinnerungen gelöscht sind, die Gefühle bleiben. Alice
war meine Mutter und doch spürte ich rein gar nichts. Entweder war
diese Theorie falsch oder ich hatte nicht das beste Verhältnis zu
meinen Eltern gehabt. Ich hoffte auf Ersteres, denn diese beiden
Menschen waren im Moment die einzigen, die mir Halt gaben, in einer
Welt, die ich nicht kannte.
"Hallo",
begrüßte ich sie etwas befangen. Sie bat uns rein und schob uns
gleich in die Küche, wo ein verführender Duft von Hähnchen auf uns
wartete. Ich aß als hätte ich seit Wochen nichts mehr in den Magen
bekommen. Gewissermaßen war das auch so, denn bevor ich
aufgewacht war, lag ich im Koma.
Alice war Anwältin und Michael
Polizist. Beide hatten sich zu meinen Gunsten frei genommen, doch in
Wirklichkeit wollte ich, dass sie mich allein ließen. Wieso verstand
das niemand? Ich wusste nicht, wer ich war! Ich brauchte meine Zeit,
um mich kennen zu lernen. Wer war Ethan vor einem Jahr? Ich dachte mir,
dass ich die Antwort vielleicht in der Schule finden würde.
Vielleicht konnten mir meine Freunde etwas sagen...
...doch ich hatte keine.
Kein Schüler der 12-D redete mit mir. Auch untereinander wechselten
sie kaum ein Wort und schreckten jedes Mal auf, wenn ein
undefinierbares Geräusch ins Klassenzimmer drang. Ein Mädchen sah
zu mir rüber und ich meinte so etwas wie Mitleid in ihren Augen
gesehen zu haben. Vielleicht konnte sie mir helfen? Nach dem
Unterricht ging ich zu ihr hin und begrüßte sie. Sie schien
erschrocken zu sein, dass ich sie angesprochen hatte. Sie packte
schnell ihre Sachen und wollte gerade gehen, als ich sie am Arm
hielt.
"Warte, bitte!",
sagte ich ihr zu ihr. Mittlerweile war das Klassenzimmer leer.
"Lass mich sofort
los!", erwiderte sie ängstlich und ich konnte nicht anders als
ihrer Aufforderung nachzugehen.
"Ich brauche deine
Hilfe", sagte ich, in der Hoffnung sie umstimmen zu können. Sie
seufzte tief und setzte sich schließlich doch auf ihren Stuhl.
"Warum will keiner
mit mir reden?", fragte ich. "Hatte ich denn keine Freunde? Ist während meiner Abwesenheit etwas geschehen?"
Sie sah auf dem Boden.
"Bitte",
flüsterte ich eindringlich. "Ich muss wissen, wer ich war, bevor mir dieser Unfall meine Erinnerungen nahm."
Abermals seufzte das
Mädchen und antwortete mir endlich: "Diese Klasse ist
verflucht."
"Bitte was?",
fragte ich ungläubig. "Ich bin nicht verrückt geworden oder
so. Sag mir die Wahrheit."
"Aber es stimmt",
sagte sie und sah endlich zu mir auf. "Du weißt es nicht, weil
du ein Jahr nicht da warst." Sie senkte ihre Stimme und sprach:
"Du weißt nicht, was geschehen ist."
Als ich zu Hause war,
suchte ich Alice auf und entdeckte sie in ihrem Büro.
"Habe ich
irgendwelche alte Klassenfotos? Ich möchte sie sehen!" Alice sah
mich erschrocken an und verzog ihre Lippen zu einer schmalen Linie.
"Gibt es einen Grund dafür?", fragte sie kalt.
"Bitte", flehte
ich. "Mom."
Das schien sie
aufzutauen. Ruckartig stand sie auf und tigerte im Raum herum. "Ich
wusste doch, dass es keine gute Idee war, dich in deine alte Schule
zu schicken", murmelte sie. "Ich habe es ihm doch gesagt."
Schließlich sah sie mich erschöpft an "Im Dachboden.
Links neben einer alten Nähmaschine findest du eine Kiste mit alten
Schulsachen." Ich gab ihr einen Kuss auf die Wange und flitzte
nach oben. Ich fand die Kiste mit
meinen Sachen und durchsuchte diese nach irgendwelchen Fotos. Ich
fand mehrere und nahm sie mit nach unten zu meinem Zimmer. Dort
schaltete ich das Licht ein und breitete sie über mein Schreibtisch
aus. In den vergangenen drei Jahren waren keine neuen Schüler in die
Klasse gekommen und keine waren gegangen. Mit einem roten Stift
markierte ich alle mir bekannten Gesichter. Abgesehen von mir blieben
vier Jungs und ein Mädchen übrig. Alles ging auf. Die Jungs
markierte ich blau. Das müssten Oliver, Lewis, Dylan und Henry sein.
Sie alle waren jetzt tot. Ihre Leichen wurden zerstückelt und
misshandelt in abgelegenen Orten gefunden und so sehr sich die
Polizei anstrengte, sie konnten nicht herausfinden, wer diese
grausamen Morde begangen hatte. Der Fall blieb ungelöst und wurde zu
den Akten gelegt. Die Jungs starben in einem Zeitraum von wenigen
Wochen. Seitdem wurden in regelmäßigen Abständen weitere
Dorfbewohner getötet. Und mit mir hatte die Mordserie begonnen.
Die Dorfbewohner waren
sich sicher, dass ein Ereignis dafür verantwortlich gewesen wäre: Der Tod der Mörders-Tochter.
Sie ist
das verbliebene Mädchen aus meiner Klasse. Ihr Name war Lucy. Sie
war das was man generell einen Außenseiter nennt. Im Alter von zehn
Jahren soll ihr Vater seine Frau und dann sich selbst umgebracht
haben. Seitdem habe sie alleine gewohnt und jeglichen Kontakt mit
Außenstehenden gemieden. Lucy war in einem Park, als meine Freunde und ich sie dort angetroffen haben. Am
nächsten Tag wurde Lucy dort tot aufgefunden. Beim Versuch mich
zu erinnern tat mir der Kopf weh. Was konnte ich damals gemacht
haben, dass sie starb? Habe ich sie verletzt? Ich habe doch nicht...?
Ich riskierte einen Blick auf die Fotos. Wieso habe ich es nicht
sofort bemerkt? Dieses Mädchen war...
"Schön, dass du es
herausgefunden hast", sagte eine weibliche Stimme hinter meinem
Rücken. Langsam und bedacht drehte ich mich um. Mit einem
blutverschmierten Messer in der Hand stand sie da und schaute mit
ihren dunklen Augen auf mich herab. Lucy. Sie war diejenige, die ich
neulich gesehen hatte, als ich mit Michael im Auto war. Diese kalten und doch wunderschönen Augen würde ich überall wieder erkennen.
"Was willst du von
mir?", fragte ich und staunte, wie fest meine Stimme klang.
"Willst du zu Ende bringen, was dir vor einem Jahr nicht gelungen ist?" Mittlerweile war ich mir absolut sicher, dass Lucy damals versucht hatte, mich zu töten.
Langsam
näherte ich mich der Tür. Blitzartig verließ ich den Raum und
rannte nach unten ins Wohnzimmer. "Alice! Michael!" Ich
rief nach meinen Eltern, doch sie hörten mich nicht. Ich rannte zu
ihrem Schlafzimmer und fand sie. Ihre Körper lagen reglos auf den
weißen Laken, die nun über und über in Blut getränkt waren. Ihre
Gesichter waren zu grausamen Grimassen verzogen und ihre Arme und
Beine waren in unnatürlichen Winkeln verdreht.
"Es tut mir so leid,
Ethan." Ich drehte mich um und sah Lucy, die plötzlich hinter
mir aufgetaucht war. "Aber sie haben es verdient."
"Warum tust du
das?", fragte ich und wusste in dem Moment, dass es kein
Entkommen gab. Was auch immer ich damals getan hatte, jetzt musste
ich dafür zahlen. Mit einem Mal wusste ich was zu tun war. Ich ging
zurück zum Wohnzimmer und setzte mich auf die Couch. Alles in mir
war taub. Ich fühlte rein gar nichts, nicht einmal in Anbetracht des
Todes meiner Eltern. Ich hatte nichts zu verlieren. Dann könnte ich
diesem Mädchen gleich geben, wonach sie verlangte. Mein Leben.
Niemals hätte ich
gedacht mich in so einer Situation wieder zu finden. Ich drehe diesen
lächerlichen Gestalten den Rücken zu und folge Ethan. Er scheint
sich seines Todes sicher zu sein. Ich bleibe am Türrahmen stehen und
schaue ihn an. Etwas in ihm hat sich verändert. Er ist nicht mehr er
selbst. Mit seinen Erinnerungen scheinen wohl auch seine
Eigenschaften von ihm gegangen zu sein. Für einen Moment stelle ich
mir tatsächlich vor, wie dieses Theater alternativ hätte enden können. Die
verträumte Romantikerin in mir fragt sich, ob wir beide jemals ein
Liebespaar hätten werden können.
Nein! Ich rufe mir ins
Gedächtnis, was alles passiert ist. All die Demütigungen, die ich
ertragen musste, die Schikanen! Niemals lasse ich das ungestraft!
Beständig gehe ich zu
Ethan und erfreue mich seines Blickes, den er mir zuwirft. Wie oft
hatte ich davon geträumt, er würde mich so ansehen. Angesichts
dieser bizarren Situation sind seine Gefühle wahrlich mehr als
unangebracht.
Ich stehe vor ihm und
sehe keine Angst in seinen Augen. Er ist so tapfer. Ich lege die kalte Spitze meiner Klinge auf der Brust direkt über seinem Herz und bin bereit, zu drücken.
'Du bist nicht mehr du
selbst', hat Sam zu mir gesagt. Ich werde wütend. Ich tue das für
uns beide! Und für Ethan. Ich will, dass er stirbt. Genau genommen, ist es jetzt der perfekte Zeitpunkt für ihn. Er ist von allen bösen
Erinnerungen befreit und so rein in der Seele wie noch nie.
Hier stehe ich also.
Ich, die Mörders-Tochter, die Mörderin.
Nein, ich bin Lucy.
Ein ganz normales Mädchen. Und ich stehe hier vor meinem Geliebten
und wünsche mir so verzweifelt, dass er stirbt...
Super mimee :) um es aber nicht sooo abstrakt zu sagen: alsooo... sehr spannende story lässt sich super lesen...man hat oft dieses "häh?" und dann "ahh" effekt was sehr positiv ankam...es bleiben viele fragen offen (z.b. was zwischen ethan und lucy vorgefallen ist? Was geschah damals im park? etc.)aber ich denke das war sogar gewünscht stimmts :) ....ich bin schon gespannt was noch alles kommt bezüglich dieser geschichte.... ;)
AntwortenLöschenIch freue mich, dass es Dir gefallen hat und gebe natürlich mein Bestes, dass der zweite Teil ebenfalls so wird :)
AntwortenLöschenGruß,
Mime